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Sonntag, 5. Juni 2022

Heimat

Hallo meine Lesemäuse,

heute möchte ich euch ein neues Lieblingsbuch von mir vorstellen. Ich habe es zu Ostern geschenkt bekommen und hab es mehr oder weniger direkt angefangen zu lesen. Dann hat es aber in meine Lesepläne eine Weile nicht reingepasst. Jetzt habe ich es aber endlich beendet und bin sehr glücklich.

Die Fakten:

  • Autor: Nora Krug
  • Titel: Heimat - A German Family Album
  • Erschienen: 2018
  • Verlag: Penguin Books
  • Seiten: 288
  • Preis: 15,99 Euro
  • Klappentext: "Nora Krug grew up as a second-generation German after the end of the Second World War, in the shadow of her country's past. After leaving Germany for the US, she decided she couldn't know who she was without confronting where she'd come from. In Heimat, she documents her journey investigating the lives of her family members under the Nazi regime, visually charting her way back to a country still tainted by war. Beautifully illustrated and lyrically told, Heimat is about identity, history and home."

Zur Handlung: Nora Krug wandert für ihre Karriere nach Amerika aus. In dieser anderen Welt, in der man einfach so auf einer Dachterasse Überlebende aus Konzentrationslagern treffen kann, spürt sie das erste Mal, wie sehr der Zweite Weltkrieg ihre Familie und das, was sie über ihre Familie weiß, beeinflusst hat. Sie spürt das klaffende Loch, das durch kollektives Schweigen entstanden ist. Und sie beginnt sich Fragen zu stellen. Was haben ihr Großvater, ihre Großmutter, ihr Onkel während des Dritten Reichs gemacht? Waren sie Anhänger oder Mitläufer? Haben sie Juden in Schuppen hinterm Haus versteckt? 

Sie begibt sich auf die Reise in die Vergangenheit und gleichzeitig in die Heimat, die sie bisher nie richtig kennen konnte. Sie trifft entfremdete Familienmitglieder, fragwürdige Expert*innen und Verwaltungsangestellte. Langsam puzzlet sie zusammen, was ihre Familie erlebt hat und wie dies auch Noras Leben am Ende geprägt hat.

Dieses Buch hat mich direkt in den Bann gezogen, denn ich versuche seit Jahren meine Großeltern dazu zu bekommen, dass sie mit mir ihr Wissen teilen, bevor es zu spät ist. Ich möchte wissen, woher ich komme, wer meine Familie war, und wer daraus folgend ich geworden bin. Das ist für mich besonders interessant, da ich zumindest für die Hälfte meiner Familie der letzte Ast im Stammbaum sein werde. Wer wird sich dann noch zurückerinnern?

Nora Krug tritt diesen Kampf gegen das Schweigen und das Vergessen an. Sie will sich nicht damit zufriedengeben, dass ihr niemand bereitwillig Antworten gibt. Das habe ich direkt bewundert, denn als Deutsche ist der Umgang mit der familialen Vergangenheit natürlich immer schambehaftet und schwierig. Dürfen wir fragen? Sollten wir fragen? Müssen wir vielleicht sogar fragen? Dabei fand ich auch die Unterschiede zwischen meiner Situation und der der Autorin spannend - sie ist westdeutsch, ich bin ostdeutsch. Ihre Großeltern haben den Krieg erlebt, bei mir waren es dir Urgroßeltern. Und doch ist das Gefühl, wenn ich dieses Buch aufschlage, eins des Gesehenwerdens.

Die Autorin schafft es, viele meiner Gedanken und Gefühle in dieses Buch zu packen. Auch meine Reaktionen auch manche ihrer Rechercheergebnisse waren genau wie die von ihr beschriebenen. Dabei schwingt so sehr diese Hoffnung auf Absolution mit - dass der Großvater kein Nazi war und man selbst daher etwas weniger Schuld trägt. Gleichzeitig weiß die Autorin, dass das Quatsch ist. Einige Situationen sind auch fast schon skurril - wie als der Vater das Grab seines ihm unbekannten großen Bruders auf einen Friedhof findet, während die Familie im Italienurlaub ist.

Es gelingt in diesem Buch, die Komplexität von Familie wiederzuspiegeln. Gerade die Situation des Vaters - nach dem Krieg geboren und quasi von der Familie verstoßen, weil er nicht wie der tote große Bruder war - zeigt auch, wie Familien brechen und wie so ein Bruch durch die Generationen geht. Aber auch die komplexen Gefühle zu unseren Familienangehörigen, die wir uns nicht aussuchen konnten, die wir aber trotzdem irgendwie respektiven und vielleicht lieben können wollen, finden sich hier wundervoll.

Optisch ist das Buch grandios. Alles ist graphisch aufbereitet, mal im eher im Comic-Stil, mal unter Einbezug alter Fotos, manchmal fast schon als Kunstwerk. Das Buch hat für einen Graphic Novel recht viel Text, aber alles passt wundervoll zusammen. Manche Seiten habe ich einfach eine Weile angestarrt. Eingestreut finden sich zwischen den Kapiteln Seiten zu Dingen, die Emigrierte aus Deutschland vermissen, was ich sehr nachvollziehbar fand, und Seiten zu Flohmarktfunden in Bezug zum Dritten Reich, was teilweise echt gruslig war. Dadurch wird das Buch noch etwas aufgelockert.

Alles in allem hat das Buch für mich einfach funktioniert. Es wirft Fragen, Gefühle, Gedanken auf, die wir uns als Deutsche nur ganz ganz leise stellen, oder eben nie. Ich habe mich unglaublich Gesehen gefühlt, obwohl doch viele Erfahrungen bei mir anders waren als bei der Autorin. Die Aufarbeitung durch die Recherche fand ich sehr gelungen und auch nachvollziehbar dargestellt. Letztlich zeigt dieses Buch auf, dass ein Deutschland durch diesen Krieg ein anderes Land geworden ist, und wir alle nach wie vor mit diesem Erbe leben. Ob uns das bewusst ist, ist eine andere Frage. Mich hat es überzeugt.

Habt ihr von dem Buch schon gehört? Eine deutsche Ausgabe ist inzwischen auch erschienen. 

Bis bald,
Eure Kitty Retro





Meine Bewertung:



2 Kommentare:

  1. Huhu :)

    Ich finde Bücher zum Thema Holocaust wichtig. "Heimat" kannte ich noch gar nicht, ich finde den Ansatz mit der Auseinandersetzung der eigenen Familiegeschichte aber sehr interessant. So etwas habe ich bislang noch in keinem anderen Buch zu der Thematik gelesen. Ich werde den Titel auf jeden Fall mal im Hinterkopf behalten!

    Liebe Grüsse
    Mel

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    1. Ja, ich fand es wirklich gut gemacht. Ursprünglich ist das Buch für nicht-deutsches Publikum gedacht, die sich Vieles, was für uns normal ist, meistens gar nicht vorstellen können. Zum Beispiel habe ich erst mit 18 oder 19 erfahren, dass ein großer Teil meiner Familie als Geflüchtete dahin gekommen war, wo ich aufgewachsen bin. Bis dahin dachte ich wirklich, meine Familie geht da waaaay back. Hat eben keiner drüber geredet.

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