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Montag, 23. März 2020

Flüchtige Moderne

Hallo meine isolierten Lesemäuse,

in Zeiten der Krise wird es Zeit für Krisenwissenschaften wie die Soziologie eine ist. Im Moment promoviere ich in diesem Gebiet und habe daher mal ein Buch zwischengeschoben, das nicht für den traditionellen Unterhaltungsleser gedacht ist. Dennoch finde ich, dass jeder etwas aus diesem Buch ziehen kann, wenn er will, und darum stelle ich es hier ausnahmsweise vor.

Die Fakten:
  • Autor: Zygmunt Bauman
  • Titel: Flüchtige Moderne (Original: Liquid Modernity)
  • Übersetzung: Reinhard Kreissl
  • Erschienen: 2003 (Original: 2000)
  • Verlag: suhrkamp
  • Seiten: 252
  • Preis: 15,00 Euro
  • Klappentext: "Die in der französischen Revolution erhobene Forderung nach "Verdampfung aller Stände" sollte dazu führen, dass neue Stabilitätengeschaffen werden. Nach über zweihundert Jahres des Kampfes um Freiheit und Emanzipation müssen wir einsehen, dass eine Kluft zwischen dem befreiten Individuum de jure und seinen Einflussmöglichkeiten de facto entstanden ist. Zygmunt Bauman entwirft mit provozierender Souveränität das Bild einer Moderne, die sich durch exterritorial und mobil gewordene Machtstrukturen auszeichnet. Das Individuum ist zwar in die Freiheit entlassen, muss das soziale Gewebe jedoch in Heimarbeit selbst herstellen. Es gibt kein Schaltzentrum der Macht mehr, die Strukturen sind flüchtig, die Freiheit beliebig. Ist der Kritischen Theorie damit das Subjekt abhanden gekommen?"

Zum Inhalt: Zygmunt Bauman diagnostiziert die Spätmoderne als eine flüssige Moderne. Der entscheidende Umbruch geschieht, als die schwere Moderne abgelöst wird von hypermobilen Eliten, deren globalen Geldflüssen und Kommunikationstechnologien, die den Ort unwichtig machen. Wir können überall mit jedem kommunizieren, wir können immer größere Distanzen immer schneller überbrücken. Damit gerät laut Bauman alles ins Fließen.

Doch erreichen wir damit tatsächlich die Freiheit, die wir uns immer erhofft haben? Oder ist es nur eine Freiheit auf Papier, die uns neue Zwänge auferlegt? Schnell wird klar, es gibt keine Freiheit nicht zu entscheiden, nicht zu wählen. In dieser flüchtigen Moderne gewinnt der Schnellste, der Leichteste. Und die Verlierer sind die Menschen, die ortsgebunden bleiben, die stark im Netz der Familie oder der Community verankert bleiben.

Das spannende an Modernisierungstheorien - vor allem denjenigen, die sich mit der Spät- oder Postmoderne beschäftigen - ist, dass sie häufig Antworten auf Fragen liefern, die zu jener Zeit noch keiner gefragt hatte. So ist dieses Buch erstmals 2000 erschienen, vor 9/11. Dennoch beantwortet es Fragen, die uns heute so dringend erscheinen. Vor allem geht das Buch sehr ausführlich darauf ein, warum rechte und fremdenfeindliche Ideologien in dieser flüssigen Moderne wieder beliebt werden.

Das Buch ist aufgeteilt in fünf Unterkapitel. Das erste beschäftigt sich mit "Emanzipation", allerdings geht es hier nicht um die Frauenbewegung. Emanzipation bedeutet hier vielmehr die Befreiung der Menschheit, die schon in der französischen Revolution zum Ziel erhoben wurde. Bauman fragt sich, ob wir heute tatsächlich so frei sind, wie wir scheinen, oder ob wir nicht einfach anderen Regeln folgen müssen, aber immer noch so unfrei sind wie eh und je.

Darauf folgt ein Kapitel zu "Individualität" und dabei vor allem Individualisierung. Ich denke, dass sich hier viele junge Menschen wiederfinden werden, wenn es darum geht, ob wir wirklich alle glückliche kleine Schneeflocken sind oder ob auch wir gesellschaftlichen Zwängen unterliegen, ihre Ursache aber nicht mehr sehen können. Das hat mich an Soziologie immer besonders fasziniert.

Anschließend geht es um das Verhältnis von Zeit und Raum, was ich persönlich immer sehr interessant finde, was einigen aber vielleicht auch zu Abstrakt wird. Die Idee, dass zunächst Raum das Ausschlaggebende in der Moderne war und nun Zeit den Raum entwertet, beziehungsweise sich von diesem entkoppelt und daher das Entscheidende wird, finde ich sehr spannend.

Im Kapitel "Arbeit" geht es auch nicht nur um die Industrie- oder Erwerbsarbeit, die wir vielleicht damit assoziieren, sondern auch um Themen wie Familie und Partnerschaft. Es geht hier darum, was die Gesellschaft erst schafft und wie diese wichtigen Grundlagen sich in der flüssigen Moderne verändern. Gerade die Ideen zu Familie finde ich immer wieder interessant.

Im letzten Kapitel "Gemeinschaft" geht es dann um den neuen Reiz, den Träume von "ursprünglichen Gemeinschaften" in der flüssigen Moderne entwickeln. Sie locken mit einem Versprechen, dass so alles wieder zum Stillstand und in geordnete Bahnen kommt. Auch wenn dieser Teil für mich persönlich nicht sehr interessant war, da meine Forschung in anderen Bereichen liegt, ist es doch von unglaublicher Relevanz für die heutigen Gesellschaften.

Besonders hervorheben möchte ich schließlich das Nachwort, in dem Bauman auf die Aufgabe der Soziologie verweist. Es geht darum, menschliches Leid zu beenden oder zumindest einzudämmen. Baumans Reflektionen dazu fand ich sehr ansprechend und inspirierend.

Wer also mal wissen möchte, was Soziologie -unter anderem- so ist und macht, der sollte sich dieses Büchlein anschauen. Es ist nicht besonders lang und auch nicht besonders schwer geschrieben, sondern zugänglich auch für fachfremde Personen. Es geht auf wichtige Fragen ein, die wir heute -20 Jahre später- an die Gesellschaft haben. Ich denke, jeder kann ein bisschen seines eigenen Lebens darin wiederfinden. Und schließlich geht es der Soziologie darum, dass Menschen erkennen, dass sie nicht immer selbst schuld sind, dass sie nie hätten alles erreichen können und dass niemand in einem Vakuum lebt. Wie könnte man das besser erreichen, als Leute dazu zu kriegen, solche Bücher zu lesen?

Interessieren euch ab und an auch solche Reviews? Oder sollen wir lieber bei Romanen, etc. bleiben?

Bis bald,
Eure Kitty Retro





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