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Sonntag, 3. Mai 2020

Befreit

Hallo meine Lesefreunde,

ich hatte kurz vor dem Lockdown zum Glück noch eine Menge Bücher aus der Bibliothek mitgenommen. Erst kam ich mir sehr doof vor, so viel auszuleihen, aber inzwischen bin ich wirklich froh darüber. Heute möchte ich euch wieder von einem solchen Buch berichten, das ich von meinem Stapel gelesen habe.

Die Fakten:
  • Autor: Tara Westover
  • Titel: Befreit (Original: Educated)
  • Übersetzung: Eike Schönfeld
  • Verlag: Kiepenheuer & Witsch
  • Erschienen: 2018
  • Seiten: 441
  • Preis: 12,00 Euro
  • Klappentext: "Tara Westover ist 17 Jahre alt, als sie zum ersten Mal eine Schulklasse betritt. Zehn Jahre später kann sie eine beeindruckende akademische Laufbahn vorweisen. Aufgewachsen im ländlichen Amerika, befreit sie sich aus einer ärmlichen, archaischen und von Paranoia und Gewalt geprägten Welt - durch Bildung, durch die Aneignung von Wissen, das ihr so lange vorenthalten worden war."

Zur Handlung: Tara wächst als Tochter in einer großen Familie auf. Sie hat einige Brüder und eine ältere Schwester. Die drei jüngsten Kinder existieren für den amerikanischen Staat nicht - ihre Geburt wurde nie gemeldet. Tara hat nie das Innere einer Schule gesehen - im Gegensatz zu ihren älteren Geschwistern. Aber auch diese dürfen nun nicht mehr hingehen, denn der Vater fürchtet die Vergeltung der Regierung.

In Taras Welt ist der Staat immer schon der Gegner gewesen: er wird kommen und die Kinder der Familie wegnehmen. Sie werden kommen und alle erschießen. Tara weiß in ihrer Kindheit nicht, dass der Staat sich nicht die Bohne für die stark religiöse Großfamilie interessiert. Für Taras Vater sind alle Feinde, selbst die Mitglieder der Gemeinde und auch viele enge Verwandte. Er bereitet sich auf das Ende der Welt vor, und Gott wird's schon richten.

Gleich zu Beginn möchte ich sagen, dass diese Memoire mich deutlich härter getroffen hat, als ich erwartet hatte. Ich werde das vermutlich verbal nicht gut ausdrücken können, aber ich hoffe, ihr glaub mir das einfach. Dieses Buch handelt weniger davon, wie toll Bildung ist - das steht eher am Rande. Es geht vielmehr darum, wie man in einer dysfunktionalen Familie aufwächst und wie das das ganze Leben prägt und man auch mit dem Wissen darum nicht einfach alle Verbindungen kappen kann.

Das Buch ist geteilt in drei Teile, wobei der erste der längste ist. Dieser handelt von Taras Kindheit. Die ist geprägt davon, dass sie nur in ihrer Familie existiert. Tara hat keine Freunde im gleichen Alter, andere Verwandte wie die Großmutter sieht sie mit der Zeit immer seltener. Wir sehen hier, wie der Vater die absolute Macht über die Familie hat. Die Mutter ist scheinbar mit vielen Entscheidungen nicht einverstanden, macht aber immer, was sie soll, egal was es ihr abverlangt.

Wir sehen in diesem ersten Teil auch, wie sich familiale Probleme vererben. Wir erfahren von Taras Großmutter mütterlicherseits, die in großer Armut aufwuchs und immer gesagt bekam, dass sie nie einen guten Ehemann finden wird aufgrund ihrer Familie. Als sie nach dem Krieg doch einen Mann fand, baute sie sich - ihrer Meinung nach - die perfekte Familie auf, bei viel Wert auf das äußere gelegt wurde. Sie wollte für ihre Kinder nur die besten Voraussetzungen schaffen. Ihre Tochter wiederum, Taras Mutter, war davon so genervt, dass sie den Mann wählte, der die Eltern am meisten schockieren würde. Und mit diesem Mann nun musste sie ihr Leben verbringen - das war Taras Vater. Ähnliche Muster finden sich auch in meiner Familie, und ich finde das verstörend und gleichzeitig interessant.

Viele Kritiker des Buches schreiben, dass sie die Geschichte von Tara - vor allem hier am Anfang - nicht glauben. Ich kann es verstehen, dass man nicht wahrhaben will, dass es solche Familien gibt. Ich musste das Buch mehrfach weglegen, weil man meilenweit kommen sah, dass etwas schrecklich schief gehen wird, aber es war klar, dass Taras Vater das alles ganz gelassen hinnehmen wird. Arbeitsschutz zum Beispiel ist für ihn nur für Ungläubige. Und wow, da geht echt einige wirklich unglaublich schief. Ich wünschte auch, dass das alles erfunden wäre. Das macht es unglaublich frustrierend beim Lesen, aber das genau das Gefühl, das auch entstehen soll. Denn darin erkennen wir die Machtlosigkeit der ganzen Familie gegen den Vater.

Gerade dieser erste Teil portraittiert wunderbar, wie Paranoia und religiöser Fanatismus in einer psychischen Störung zusammenwirken können. Ich bin gar nicht religiös, darum ist das für mich am schwersten zu verstehen. Die Autorin weist aber direkt am Anfang darauf hin, dass sie nicht gegen ihre Religion vorgehen will, sondern dies die Geschichte ihres Lebens ist. Der Vater hätte ziemlich jeden Glauben haben können und es wäre sehr ähnlich geworden. Das fand ich sehr gut, dass sie darauf hingewiesen hat.

Während der Vater nie offiziell diagnostiziert wurde, stellt Tara dann im zweiten Teil - als sie es schafft an einem College angenommen zu werden - fest, dass die Symptome der manischen Depression unglaublich gut auf ihren Vater passen. Allen voran ist da die Paranoia, aber auch viele andere Momente passen darauf. Es geht also vielmehr darum, wie eine ganze Familie unter solch einer Krankheit leiden kann, wenn gerade die Symptome der Krankheit verhindern, dass die Menschen sich Hilfe suchen oder Hilfe bekommen.

Im zweiten Teil schafft es Tara also, ihre Familie zum Teil hinter sich zu lassen und zu studieren. Allerdings fühlt sie sich häufig sehr fremd und glaubt noch immer Viele der Dinge, die ihr eingetrichtert wurden. Auch ist das Finanzielle für sie immer problematisch - aber Hilfe kann sie in diesem Bereich nicht annehmen. Auch hier wird es für den Leser wieder frustrierend, denn für uns ist das ganz einfach. Klar kann sie doch einen Kredit aufnehmen. Ich fand es aber gut erklärt, warum das in diesen Momenten immer noch ein Problem für Tara war.

Der letzte Teil wurde dann für mich persönlich nochmal sehr hart. Mit ihrer Bildung, die Tara erwirbt, kann sie bestimmte Dinge immer besser einordnen. So sieht sie auch, wie stark sie unter den Ausbrüchen eines ihrer Brüder immer gelitten hat. Ihre Schwester bittet sie um Hilfe, um der Familie klarzumachen, dass mit dem Bruder etwas nicht stimmt - zumal er gerade geheiratet hat und beide Schwestern Angst um diese Ehefrau haben. Doch damit stürzt das ganze Kartenhaus schließlich zusammen, denn Tara sieht, dass ihre Familie angeführt durch den Vater niemals aus all der Paranoia und den verqueren Gedanken ausbrechen kann. Sie muss akzeptieren, dass sie ihrer Familie nicht nur nicht helfen kann, sondern sogar ihre Hilfe absolut unerwünscht ist. Etwas ähnliches ist mir selbst passiert und so hat mich dieser Teil nochmal so hart getroffen. Und ihre Ausführungen zu dem Thema haben mir geholfen, bestimmte Dinge, die ich an mir nicht gern mag, besser einordnen zu können.

So geht es in diesem letzten Teil viel darum, dass man absolut ungerechtfertigt als Lügnerin abgestempelt wird. Während die Familie sich zusammenschließt, um nicht akzeptieren zu müssen, dass da schlimme Dinge passiert sind, wird man selbst zum Zerstörer der Familie ernannt. Man müsse ja nur über seine falschen Anschuldigungen hinwegkommen und dann könne alles wieder sein wie früher, wo sich alle lieb hatten - oder so. Ein Tick, den Tara daraufhin entwickelt, ist, dass sie bei allen kleinen Alltagsunsicherheiten - haben wir den Freund gestern oder vorgestern getroffen, hatten wir schonmal dieses Rezept probiert - sofort nachgibt und ihrem Partner zustimmt. Sie traut ihren eigenen Erinnerungen nicht mehr; alles könnte ja nur in ihrem Kopf sein. Bei mir ist es genau das Gegenteil, selbst bei diesen kleinen Nichtigkeiten des Alltags werde ich nach allen Beweisen suchen, bis ich zeigen kann, dass ich recht hatte: siehst du, wir haben den Freund wirklich vorgestern getroffen und nicht gestern! Total Banane... 

Alles in allem war dies für mich ein unglaubliches Buch. Ich fand es ist ein unglaublich frustrierendes Leseerlebnis und man wünscht sich in vielen Momenten, dass die Autorin übertreibt. Man hofft, dass niemand so eine Kindheit haben muss. Gleichzeitig fällt es mir sehr schwer mir vorzustellen, wie sowas in der Fantasie einer Person entspringt. Und mit geht es bei Memoiren nie darum, ob jedes Wort stimmt, sondern um die Elemente, die ich auf mein eigenes Leben irgendwie übertragen kann, und die neuen Ideen, die sich in meinem Gehirn deswegen ausbilden. Daher empfehle ich dieses Buch ohne Vorbehalte, solang ihr es ertragen könnt. Triggerwarnung für so ziemlich jede Art von Unfall und jede Art von Verletzung. 

(Ich wollte auch nur kurz hervorheben, dass die Autorin teilweise auch ihre Brüder nach ihren Erinnerungen an bestimmte Ereignisse befragt hat und im Buch reflektiert, dass die Erinnerungen teilweise stark auseinander gehen.)

Wie steht ihr zu solchen Memoiren? Ist es euch wichtig, dass die Erzählung faktisch zu 100% auf der Wahrheit beruht, oder ist es euch wichtiger, dass die Gefühle und Gedanken dazu gut geschildert sind?

Bis bald,
Eure Kitty Retro




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