Hallo meine Lieblingsleser,
heute möchte ich euch ein Non-Fiction Buch vorstellen, dass schon zum Asian Readathon passt, weil die Editorin eine asiatisch-amerikanische Aktivistin ist, die sich für die Rechte von Menschen mit Behinderung einsetzt. Allerdings ist das Buch selbst eine Sammlung von Essays, die für den US-amerikanischen und britischen Raum sehr viele diverse Stimmen abbildet.
Die Fakten:
- Editor: Alice Wong
- Titel: Disability Visibility
- Erschienen: 2020
- Verlag: Vintage
- Seiten: 275 + Anhang
- Preis: 13,49 Euro
- Klappentext: "One in five people in the United States lives with a disability. Some are visible, others less apparent - but all are underrespresented in media and popular culture. Now, just in time for the thirtieth anniversary of the Americans with Disabilities Act, activist Alice Wong brings together this urgent, galvanizing collection of contemporary essays by disabled people. From Harriet McBryde Johnson's account of her debate with Peter Singer over her own personhood to original pieces by authors such as Keah Brown and Haben Girma; from blog posts, manifestos, and eulogies to congressional testimonies, and beyond: this anthology gives a glimpse into the rich complexity of the disabled experience, highlighting the passions, talents, and everyday lives of this community. It invites readers to question their own understandings. It celebrates and documents disability culture in the now. It looks to the future and the past with hope and love."
Ich werde jetzt auf die einzelnen Essays eingehen und dann am Ende meine Gesamteinschätzung des Buches kurz zusammenfassen. Entschuldigt bitte, dass es ein langer Text geworden ist, aber es sind wirklich einige Essays hier zusammengetragen, und ich wollte mir die Zeit nehmen, euch einen umfassenden Einblick in die Themen des Buches zu geben.
Meine Meinung zu den einzelnen Essays:
- Unspeakable Conversations
- For Ki'tay D. Davidson, Who Loves Us
- If You Can't Fast, Give
- There's A Mathematical Equation That Proves I'm Ugly - Or So I learned in My Seventh-Grade Art Class
- The Erasure of Indigenous People in Chronic Illness
- When You Are Waiting to Be Healed
- The Isolation of Being Deaf in Prison
- Common Cyborg
- I'm Tired of Chasing a Cure
- We Can't Go Back
Dieser Beitrag ist ein Statement, das 2012 vor dem US-Senat vorgetragen wurde. Darin geht es um einen Appell, dass Menschen mit Behinderung nicht mehr in Institutionen und auf Stationen leben sollten, sondern innerhalb von Communities Platz finden müssen. Der Vortragende Ricardo T Thornton Sr beschreibt auf eindrückliche Weise, dass Menschen lernen und über sich hinauswachsen können, wenn sie in einer förderlichen Umgebung sind mit anderen Menschen, die an sie glauben. Daher auch der Titel: zurück in das von der Gesellschaft weggeschobene Leben in Einrichtungen können Menschen mit Behinderung nicht zurück, denn dort gibt es keinen Platz für echtes Leben.
- Radical Visibility
- Guide Dogs Don't Lead Blind People. We Wanders as One.
- Taking Charge of My Story as a Cancer Patient at the Hospital Where I Work
Dieses Essay erzählt davon, wie Diana Cejas in sehr jungen Jahren einen Schlaganfall erlebte und bei ihr ein sehr seltener Krebs gefunden wurde. Sie selbst war gerade in ihrer Ausbildung zur Ärztin in diesem Krankenhaus, in dem sie dann auch behandelt wurde. Nach ihrer Rückkehr und in Verbindung mit den bleibenden Folgen des Schlaganfalls und den Narben ihrer OPs wird sie wie ein bunter Hund - alle scheinen ihren Fall zu kennen, teilweise haben sie sie in ihrem schlimmsten Momenten erlebt, an die sie sich selbst nicht erinnern kann. Sie spricht dann davon, wie der offene Umgang mit ihrer Geschichte nicht nur dazu geführt hat, dass sie sich nicht mehr so preisgegeben fühlte, sondern sie auch andere Menschen fand, die ähnliche Geschichte zu erzählen hatten.
- Canfei to Canji - The Freedom of Being Loud
- Nurturing Black Disabled Joy
- Last but Not Least - Embracing Asexuality
- Imposter Syndrome and Parenting with a Disability
- How to make a Paper Crane from Rage
- Selma Blair Became a Disabled Icon Overnight. Here's Why We Need More Stories Like Hers.
In diesem Essay schreibt Zipporah Arielle über die Schauspielerin Selma Blair, die in Eiskalte Engel und Natürlich Blond zu sehen ist. In 2018 hat sie bekannt gegeben, dass sie an Multipler Sklerose erkrankt ist. Sie benutzte auf dem roten Teppich einen Gehstock und dieser Fakt sowie ihr weiteres öffentliches Auftreten werden hier diskutiert. Es geht vor allem darum, wie wichtig solche Stars sind, die einerseits das öffentliche Interesse an Behinderung und chronischer Erkrankung erhöhen können, und gleichzeitig verschiedene Aspekte, die damit einhergehen, z.B. den Gehstock oder andere Mobilitätshilfen, normalisieren.
- Why My Novel Is Dedicated to My Disabled Friend Maddy
Dieses Essay von A H Reaume hat mir besonders gut gefallen. Es geht darin um zwei Menschen, die sich zufällig auf einem Event begegnen und beide Erfahrungen mit Verletzungen des Gehirns haben. Beide sind dadurch in ihrem Handeln auf bestimmte Weise eingeschränkt - zum Beispiel durch eine Verkürzung der Zeit, die man auf einen Bildschirm starren kann. Doch beide finden, dass sich ihre Einschränkungen gut ergänzen, sodass sie letztlich gemeinsam den Roman der Autorin beenden konnten. Dieser Blick auf Kollaboration war sehr inspirierend.
- The Antiabortion Bill You Aren't Hearing About
Dieses Essay von Rebecca Cokley ist inzwischen gleichzeitig veraltet und wichtiger denn je. Nachdem Roe v Wade in Amerika gekippt wurde, sind die Rechte auf Abtreibung und reproduktive Gesundheit so eingeschränkt wie seit Jahrzehnten nicht. In diesem Essay geht es um ein Gesetz, dass es in Texas verboten hätte, Kinder aufgrund von Behinderungen, die in der Frühdiagnostik erkennbar sind, abzutreiben. Die Autorin beschreibt, dass es sich bei diesem Thema um eine komplexe Diskussion handelt, hier aber im Vordergrund steht, dass Kinder mit Behinderung nur genutzt werden um die abtreibungsfeindliche Agenda der Republikaner zu pushen und viele andere Gesetze zeigen, dass ihnen nicht an Menschen mit Behinderung liegt.
- So. Not. Broken.
In diesem Essay schreibt Alice Sheppard über die vermeintliche Binarität von "heil" und "kaputt". Sie ist Tänzerin und schreibt darüber wie ihre Mobilitätshilfen für sie Teil ihres Körpers sind, die sie zum Ausdruck und zur Erschaffung von Kunst nutzt.
- How a Blind Astronomer Found a Way to Hear the Stars
Dieser Beitrag ist ein TED Talk von Wanda Díaz-Merced. Die verschriflichte Form war für mich zwar interessant, aber da es hier auch im Töne geht, ist der tatsächliche Beitrag als Video noch spannender: https://www.youtube.com/watch?v=-hY9QSdaReY Es ist ein spannender Vortrag, der zeigt, wie Menschen mit Behinderung zu wissenschaftlichem Fortschritt führen können.
- Incontinence Is a Public Health Issue - And We Need to Talk About It
Dieses Essay von Mari Ramsawakh war für mich besonders interessant, weil es einen Teil von körperlicher Einschränkung zentriert, über den ich noch nicht nachgedacht hatte: Inkontinenz. Wie im Essay beschrieben wird, verbinden wir Inkontinenz mit Kleinkindern und alten Menschen, die Pflege brauchen. Manchmal tauchen noch traumatisierte Kinder dabei auf. Doch im Sinne von Inkontinenz aufgrund einer Behinderung wird selten bis nie berichtet. Die gesundheitliche Risiken, die mit dem Stigma von Inkontinenz einhergehen, werden hier sehr deutlich herausgearbeitet, wodurch es für mich auch gut an meine Forschung anknüpft.
- Falling/Burning - Hannah Gadsby, Nanette, and Being a Bipolar Creator
In diesem Essay schreibt Shoshana Kessock über das Komedie-Programm Nanette von Hannah Gadsby (könnt ihr auf Netflix schauen), in dem die Idee von "Leiden für die Kunst" kritisch hinterfragt wird. Diese Idee, dass vor allem Künstler mit psychischen Krankheiten besondere Kunst kreieren und durch Medikation diesen Zugang zu ihrem schaffenden Selbst verlieren und deswegen lieber leider und schaffen sollten, haben wir sicher alle schon einmal gehört. In diesem Essay geht es um die persönliche Erfahrung, die Shoshana Kessock damit gemacht hat.
- Six Ways of Looking at Crip Time
Dieses Essay beschäftigt sich mit Zeit, was ich wahnsinnig faszinierend finde. Ich habe schon im Studien ein paar Hausarbeiten über Zeit geschrieben, denn es ist ein spannendes soziales Konstrukt. Im Besonderen geht es hier nach Ellen Samuels um Crip Time, also eine spezielle Zeit, die Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten erleben. Es werden positive und negative Aspekte davon betont, und ich mochte diese sehr differenzierte Sichtweise auf die Bedeutung von Zeit in diesem Kontext.
- Lost Cause
Reyma McCoy McDeid ist ein hoffnungsloser Fall laut ihrem Großvater, der kein Problem damit hat fremde gesunde weiße Kinder aufzuziehen, aber sein eigenes Enkelkind aufgrund ihrer Hautfarbe und ihres Autismus dem Staat überlässt. Dieses Essay behandelt, wie solche Sätze sich als selbsterfüllende Prophezeihung in unser Leben brennen können - und wie wir darüber hinauswachsen können. So hat Reyma McCoy McDeid schließlich ihren eigenen hoffnungslosen Fall gefunden und zu einem Erfolg gemacht.
- On NYC's Paratransit, Fighting for Safety, Respect, and Human Dignity
Die Essays in diesem Band haben meistens Content Warning - bei diesem Essay gibt es keine, und dabei ist es für mich definitiv eins der verstörendsten im ganzen Buch. Britney Wilson ist Anwältin und für ihren Arbeitsweg auf das Paratransit-System für Menschen mit Behinderung in New York angewiesen, weil so viele andere öffentliche Verkehrsmittel nicht barrierefrei sind. Sie beschreibt, wie sie als Anwältin gegen die unsinnigen Regeln und Vorschriften dieses Systems kämpft, und am Ende bschreibt sie einen besonders krassen Fall von Diskriminierung und Grenzüberschreitung, den sie mit einem Fahrer erlebt hat.
- Gaining Power through Communcation Access
Dieser Beitrag war ein Interview, dass die Editorin des Buches mit einer Person gehalten hat, die technische Assistenzsystem zur Kommunikation nutzt. Ich fand das Interview selbst etwas redundant und nicht ganz so gehaltvoll wie viele andere Beiträge, zumal der Interviewstyle etwas davon weggeht, dass die Personen frei von der Leber weg schreiben können, was sie möchten, aber das Gedicht am ölerEnde hat mir sehr gut gefallen.
- The Fearless Benjamin Lay - Activist, Abolitionist, Dwarf Person
In diesem Essay von Eugene Grant geht es um die historische Persönlichkeit Benjamin Lay des 17. und 18. Jahrhunderts. Ich kannte ihn nicht, aber ich kenne mich leider auch mit britischer Geschichte sehr wenig aus. Benjmain Lay war allerdings nicht nur politisch engagiert, um Menschenrechte zu verbreiten, sondern er war auch kleinwüchsig. Im Essay wird dann diskutiert, wie wertvoll und wichtig es ist, dass in geschichtlichen Beiträgen zu dieser Person auch erwähnt wird, dass sie Körpernormen nicht erfüllt hat, und dass dieser Fakt auch das politische Wirken beeinflusst hat.
- To Survive Climate Catastrophe, Look to Queer and Disabled Folks
Dieser Beitrag von Patty Berne (niedergeschrieben von Vanessa Raditz) diskutiert, dass die Folgen von Klimakatastrophen besonders marginalisierte Gesellschaftsgruppen, allen voran Personen mit Behinderung und chronischen Erkrankungen, treffen. (Gesehen hat man das auch bei anderen Katastrophen wie der Pandemie.) Dabei zeigen dann Beispiele aus diesen Gruppen, wie sich Menschen zusammentun und Hilfe organisieren können, um Menschenleben zu retten, und welches Potential darin für die ganze Menschheit steckt.
- Disability Solidarity - Completing the "Vision for Black Lives"
Das Harriet Tubman Collective kritisiert in diesem Beitrag die Auslassung von Menschen mit Behinderung in den Texten und Proklamationen der Black Lives Matter-Bewegung. Gerade vor dem Hintergrund, dass in den Schwarzen Communities in Amerika besonders viele Menschen mit Behinderung und chronischen Krankheiten existieren, erscheint das ein ernstzunehmendes Problem. Ziel ist es, dass auch diese Gruppe als eine Stimme in die Bewegung eingeht.
- Time's Up for Me, Too
Dieses Essay von Karolyn Gehrig beschäftigt sich mit sexueller Gewalt, und wie schwierig es vor allem für Personen mit Behinderung, die besonders häufig Opfer von (sexueller) Gewalt werden, ist dagegen vorzugehen. Dabei kommen Aussagen wie: "Eine Jury wird nicht glauben, dass ein Ehemann seine behinderte Frau missbrauchen würde". Ein sehr sehr wichtiges Thema. Die vielen Bezüge zu Shape of Water waren für mich insofern schwierig, weil der Film vor so langer Zeit herausgekommen ist und bei mir davon nicht viel hängen geblieben war...
- Still Dreaming Wild Disability Justice Dreams at the End of the World
In diesem Essay beschreibt Leah Lakshmi Piepzna-Samarasinha verschiedene Träume und Utopien, die sie für die Behindertenbewegung hat. Es ist eine Aktualisierung von einem früheren Beitrag, was es für mich etwas schwierig gemacht hat, weil ich den ersten Beitrag nicht kannte. Aber der Bezug zu dem Trauma der Trump-Präsidentschaft, die noch aktiv war, während das Buch entstanden ist, wird hier gut eingefangen und in positive, hoffnungsvolle Gedanken transformiert.
- Love Means Never Having to Say... Anything
Dieses Essay von Jamison Hill fand ich sehr berührend, obwohl ich eigentlich kein sehr romantischer Mensch bin. Hier geht es um die Liebe, und was Liebe braucht. Was sie laut dem Essay nicht braucht, ist die Fähigkeit zu sprechen.
- On the Ancestral Plane - Crip Hand-Me-Downs and the Legacy of Our Movement
Dieses Essay von Stacey Milbern beschäftigt sich mit der Idee von Vorfahren, und dass diese Vorfahren keine Blutsverwandten sein müssen. Außerdem diskutiert sie die Idee, dass nicht nur wir heute von unseren Vorfahren lernen, sondern dass auch unsere Vorfahren durch uns weiter lernen. Ich mochte diesen Blickwinkel sehr und fand das Essay sehr eindrücklich.
- The Beauty of Spaces Created for and by Disabled People
In diesem letzten Beitrag schreibt s.e. smith von einer Tanzaufführung von Menschen mit Behinderung für Menschen mit Behinderung, und wie das Schaffen von solchen Orten, wo eine Community zusammenkommen und einfach für ein paar Stunden sein kann, ein wichtiges und schwieriges Unterfangen ist. Mir hat diese Diskussion am Ende des Buches gut gefallen.
Darüber hinaus bietet das Buch noch kurze Biographien der Autoren und eine Leseliste mit vielen Vorschlägen, wie man sich weiter in das Thema vertiefen kann. Alles in allem kann ich das Buch nur empfehlen, auch wenn es sehr auf die USA und in wenigen Essays Großbritannien fokussiert bleibt.
Bis bald,
Eure Kitty Retro
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