Hallo meine Lieblingsleser,
bevor ich euch mein erstes Weihnachtsbuch des Jahres vorstelle, habe ich noch ein letztes Non-Fiction-Buch. Der Non-Fiction November ist gestern ja zu Ende gegangen, und ein Buch hatte ich dafür noch gelesen. Dieses habe ich viele, viele Jahre im Schrank stehen gehabt, weil es ein bisschen ein Fehlkauf war. Gelernt habe ich jetzt aber trotzdem viel.
Die Fakten:
- Autor: Heinrich Breloer
- Titel: Unterwegs zur Familie Speer
- Erschienen: 2005
- Verlag: Propyläen
- Seiten: 535 + Anhang
- Preis: ab wenigen Euro gebraucht
- Klappentext: "Nach den Erkenntnissen, die wir heute - nicht zuletzt dank der Recherchen Heinrich Breloers - über Albert Speer haben, hätte er in Nürnberg ebenso wie die mitangeklagten NS-Führer gehängt werden müssen. Das macht dieser Dokumentationsband deutlich, eine unverzichtbare Lektüre für alle, die sich über Breloers großen TV-Film hinaus mit Speer und seiner Verstrickung in die verbrecherische Politik der Nationalsozialisten befassen möchte."
Gekauft habe ich das Buch damals in irgendeinem Sale, und von dem Titel hatte ich mir eher ein Portrait des alltäglichen Lebens in der NS-Zeit versprochen. Natürlich haben wir in der Schule alle gelernt, wie schlimm der Holocaust und der zweite Weltkrieg waren, kennen auch einige Namen aus großen Filmen über die Zeit, aber das Alltägliche ist immer das, was mich an Geschichte interessiert. Dieses Buch ist aber etwas anderes.
Wie der Klappentext, den ich damals offensichtlich nicht gelesen hatte, verdeutlicht, ist das Buch ein Zusatzwerk zu einem Film, den ich ehrlich gesagt nicht kenne. Breloer hat dafür sehr viele Interviews zu Albert Speer geführt, um der Frage nachzugehen, was hat Albert Speer gewusst, worin war er direkt verwickelt. Und diese Interviewtranskripte sind hier in Auszügen abgedruckt. Am Ende fand ich das jetzt auf eine ganz andere Art und Weise spannend, aber man muss schon sehr an diesem speziellen Thema interessiert sein, um über 500 Seiten Transkripte zu lesen.
Das Buch beginnt mit ein paar einführenden Worten von Breloer zum Projekt, in denen er auch beschreibt, wie er selbst Albert Speer noch einmal vor dessen Tod getroffen hatte, welche Charisma der Mann hatte, und welche Fragen damals auf der Strecke blieben. Danach kommen die Interview-Transkripte. Zunächst wurden vier Familienmitglieder Speers befragt: drei Kinder und der Neffe (Sohn des älteren Bruders). Danach kommen dann kürzere Interviews mit ganz unterschiedlichen Perspektiven auf den Mann und die Zeit.
Dabei geht es sehr viel mehr um die Nachkriegszeit, weniger um die NS-Zeit selbst. Vor allem am Anfang war das sehr deutlich - ein Sohn erinnert sich kategorisch an nichts vor 1945. Bei den Interviews mit den Kindern, die zum Interviewzeitpunkt selbst schon im höheren Lebensalter sind, sieht man sehr gut die unterschiedliche Auseinandersetzung mit dem Vater. Während der älteste Sohn und die älteste Tochter noch Erinnerungen an den Vater während der NS-Zeit haben, als er also ein hohes Tier und fast nie Zuhause war, gehen die Interviews der anderen beiden Familienmitglieder nur auf die Nachkriegszeit ein.
Ich fand es dabei schon interessant, wie die männlichen Befragten eher in die Fußstapfen getreten sind und auch Architekten geworden sind, die Tochter jedoch hat sich auf einen ganz eigenen Pfad begeben. Bei ihr merkt man aber vor allem auch das Hin- und Hergerissensein, zwischen der Akzeptanz, wer ihr Vater war und was er getan hat, und der emotionalen Erinnerung an diese Vaterfigur, die sie nicht loslassen kann im Herzen. Bei den Männern findet eher eine emotional losgelöstere Auseinandersetzung statt, die aber auch im Beruf angelegt ist. Zwar wird Architektur als Fachgebiet gewählt, der Stil und auch die Unternehmensführung ist aber völlig im Gegensatz zu Speer selbst angelegt. Deutlich wird, dass man sich einer solchen Vaterfigur nicht verschließen kann, auch wenn teilweise kaum persönlicher Kontakt bestand.
Interessanter waren dann für mich die anderen Interviews, denn hier kommen bestimmte Weggefährten Speers das Wort, beispielsweise Leni Riefenstahl. Aber auch Personen, die im Kriegsverbrechergefängnis Spandau tätig waren und Speer so kennenlernten, berichten. So entsteht ein wirklich komplexes Bild des Mannes, das nicht immer schmeichelhaft ist. Gegen Ende des Buches gibt es dann auch immer mehr handfeste Beweise dafür, wie tief Speer in der NS-Führungselite steckte. So hat er maßgeblich die "Entmietung" und damit Deportation der Berliner Juden und Jüdinnen vorangetrieben, er hat das KZ Mittelbau-Dora besucht und die Zustände gesehen, er hatte Berichte von Auschwitz erhalten und als Rüstungsminister Materiallieferungen für den Bau von Gaskammern und Krematorien zugestanden - in Dokumenten, die sehr klar machen, wofür das Material verwendet wurde.
Alles in allem war dies ein interessantes Buch, das mir viel über Speer, aber auch viel über Nachkriegswestdeutschland beigebracht hat. Vor allem am Anfang des Buches werden die Kontinuitäten aus der NS-Zeit in Westdeutschland sehr deutlich. Dabei ist auch total auffällig, dass zu dieser Zeit alle sechs Kinder Speers studiert haben und erfolgreich waren. Die eine Elite ging also in die andere über. Ich glaube, darüber sollten wir uns alle im Klaren sein, dass die Entnazifizierung nie sonderlich erfolgreich war - dennoch zeigt sich bis heute, dass es in Westdeutschland verglichen mit anderen europäischen Ländern sehr wenige Wähler*innen am rechten Rand gibt. Also irgendwas haben sei vielleicht doch gelernt.
Habt ihr denn solche Bücher schon gelesen? Es war auf jeden Fall ein interessantes Leseerlebnis, wenn auch unerwartet.
Bis bald,
Eure Kitty Retro
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