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Freitag, 26. November 2021

The Five


Hallo meine Historienleser,

heute möchte ich von einem weiteren Sachbuch berichten, das ich für den Nonfiction November gelesen habe. Nachdem ich schon viel von dem Buch gehört hatte, habe ich es dieses Jahr zum Geburtstag bekommen, und dann hat es doch noch ein bisschen gedauert, bis ich es endlich gelesen habe. Es hat sich aber auf jeden Fall gelohnt.

Die Fakten:

  • Autor: Hallie Rubenhold
  • Titel: The Five - The Untold Lives of the Women Killed by Jack the Ripper (dts. Das Leben der Frauen, die von Jack the Ripper ermordet wurden)
  • Erschienen: 2019
  • Verlag: Black Swan
  • Seiten: 352 + Anhang
  • Preis: 9,89 Euro
  • Klappentext: "Polly, Annie, Elizabeth, Catherine and Mary Jane are famous for the same thing, though they never met. They cam from Fleet Street, Knightsbridge, Wolverhampton, Sweden and Wales. They wrote ballads, ran coffee houses, lived on country estates, they breathed in ink-dust from printing presses and escaped people-traffickers. What they had in common was the year of their murders: 1888. Their murderer was never identified, but the name created for him by the press has become more famous than any of these women."

In diesem Buch dreht es sich also um fünf Frauen, die mit großer Wahrscheinlichkeit von der gleichen Person - Jack the Ripper - im Jahr 1888 getötet wurden. Jahrelang galt es, dass diese Frauen "nur Prostituierte" gewesen waren - eine Formulierung, die auf ihre minderwertige Bedeutung in der Gesellschaft hindeutet, und für manche fast schon zu einer Begründung für ihre Tötung wurde. Mit diesem Vorurteil will die Autorin aufräumen, indem sie uns erzählt, was wir alle über diese fünf Frauen wissen könnten.

Dabei ist das Buch vor allem eine Beschreibung des Lebens von Frauen in der Unterschicht Ende des 19. Jahrhunderts in London (und anderen Teilen Englands und Europas). Es wird historisch aufgearbeitet, was wir über die Frauen konkret, und das Leben solcher Frauen im weiteren Sinne wissen. Dabei wird schnell deutlich, dass für die Medien und einzelne Polizisten jede Frau in Armut quasi eine Prostituierte war. Belege, dass wirklich von diesen fünf Frauen Prostitution betrieben wurde, gibt es teilweise nur spärlich, teilweise spricht alles, was wir wissen, dagegen. Also wer waren die Frauen dann?

Die genaue Antwort bietet natürlich das Buch, und da will ich auch nicht zu viel vorwegnehmen. Die erste Geschichte war diejenige, die mich am meisten berührt hat. Polly stammt aus einer Handwerkerfamilie, wuchs zwischen Druckerpressen auf. Sie heiratet, bekommt einige Kinder, lebt in einem Wohnblock, der von einem Londoner Philantropen gebaut wurde, um das Leben der Armen in London zu verbessern. Doch ihr Mann findet bald gefallen an der jungen Nachbarin und Polly stürzt sich in den Alkohol, verlässt den Mann, lebt fortan auf der Straße und in den Arbeitshäusern. Ehebruch war bei Männern damals kein Scheidungsgrund - die Frau musste darüber hinwegsehen oder daran zugrunde gehen.

Ähnlich, aber ganz verschieden sind die anderen Leben dieser Frauen. Annie als Alkoholikerin, deren Mann sich schließlich für die Sicherheit der Kinder gegen seine Frau entscheiden muss, die gesellschaftlich nicht mehr tragbar ist. Elizabeth, die eigentlich Schwedin kommt, als Hausmädchen von einem Mann der Oberschicht verführt und dann fallen gelassen wird. Catherine, die die Liebe und Romantik wählt, und damit aber einen Mann, der keine Familie ernähren kann und schließlich gewalttätig wird. Und schließlich Mary Jane, deren Leben ein Geheimnis bleibt, die aber wahrscheinlich als Prostituierte für die höheren Herren arbeitet und dann in die Hände von Entführerin fiel. 

Was das Lesen dieses Buches besonders schwer macht, ist, dass man immer weiß, dass die Geschichte nur abwärts geht. Bei jeder fiktionalen Geschichte erwarten wir am Ende vielleicht kein Happy End, aber eine gewisse Katharsis. Hier bekommen wir nur den sozialen Abstieg, Alkoholismus, Schmerz, Einsamkeit, Tod. Und das zu lesen, das erfordert schon eine gewisse emotionale Einstellung. Andererseits ist das eben das Leben, das manche Menschen führen - ein andauerndes bergab, aus dem sie selbst nie ausbrechen werden können.

Dieses Buch beschäftigt sich ausführlich mit der Unterschichterfahrung von Frauen dieser Zeit. Es zeigt, wie schwierig die finanzielle Situation vieler Familien war, obwohl die Männer gearbeitet und die Frauen teilweise dazu verdient haben. Doch aufgrund mangelnder Geburtenkontrolle wuchsen Familien schnell über die Lohneinkünfte der Eltern hinaus. Das Buch zeigt damit vor allem die strukturellen Gründe dafür auf, dass diese Frauen am Boden der Gesellschaft gelandet waren.

Das Buch fokussiert auch auf das Thema Wohnungslosigkeit, denn während der These, dass dies "nur Prostituierte" waren, vehement und mit Belegen widersprochen wird, so wird doch deutlich, dass die Wohnungslosigkeit dieser Frauen sie erstens miteinander verband und sie zweitens logisch in die Bahn von Jack the Ripper brachte. Das Buch stellt dadurch auch dar, wie der Umgang mit Armen zu dieser Zeit war, wie die Arbeitshäuser funktionierten, und dass es keinerlei Ausweg gab, wenn man einmal unten war.

Natürlich befinden wir uns dabei an der Intersektion zu Geschlecht, denn alle besprochenen Personen in diesem Buch sind Frauen - und das ist kein Zufall. Gerade Frauen war in der Gesellschaft keine Rolle unabhängig von einem Mann ermöglicht. Wenn es also aufgrund von psychischer und physischer Gewalt dazu kam, dass eine Frau ihren Mann verlassen musste, so blieb ihr eigentlich nur die Straße. Frauen, die aus diesen stereotypen Rollen ausbrechen wollten wie Catherine, hatten es auch nicht leicht.

Und schließlich betont das Buch die erschreckende Rolle, die Alkoholismus in diesen Biografien gespielt hat. Als das einzige Mittel, dass das Leid, die Einsamkeit und den Schmerz dieser Frauen abmildern konnte, trug es dann gänzlich zum Fall bei. In den Beispielen wird aber auch deutlich, dass dies eine Krankheit ist, die damals als solche nicht erkannt wurde - vor allem bei Annie - und dass hier keine Narrative von Eigenverantwortung angebracht sind.

Alles in allem ist dieses Buch ein erschreckendes Dokument, das die Intersektion von Armut und Frausein im 19. Jahrhundert in Großbritannien und Europa beleuchtet. Es ist sehr gut lesbar geschrieben, liest sich fast wie ein Roman - inhaltlich muss man sich aber emotional auf diese Geschichten einstellen. Das Buch schließt eine wichtige Lücke, wenn es um Jack the Ripper geht. Dabei berichtet das Buch gar nichts von den Morden selbst, sondern es geht um die Rekonstruktion der Leben dieser Frauen. Gerne würde ich sagen: über die wir nichts wüssten, wenn sie nicht so schrecklich ermordet worden wären - aber in Wirklichkeit: über die wir meist nichts wissen, außer dass sie schrecklich ermordet wurden. Für mich eine klare Leseempfehlung.

Bis bald,

Eure Kitty Retro





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